fortsetzung

Die Pazifizierungsfunktion des Christentums

Mit anderen Worten, das Christentum bewährt sich als Konsolidierungsmittel, als langfristiges Pazifizierungsinstrument. Der Sachsenzug Karls des Grossen (722) macht das sehr deutlich. Die Sachsen werden bei ihrem Stammesheiligtum geschlagen. Dieses wird zerstört (Irminsul). Triumphierend stellt man Nikodemus mit vorgehaltenem Kreuz auf die Ruine. Die geschlagenen Sachsen werden unter Androhung härtester Strafen zwangsweise zum Christentum bekehrt. Auch die fränkische Ostausdehnung war meist von anschliessender Christianisierung begleitet. Nach Eroberungen wurden anschliessend Bischofssitze und Klöster gegründet, und in den Dörfern Kirchen gebaut. Die Dynamik dieses Geschehens erklärt sich vor allem daraus: die systematische Christianisierung setzt - vor allem mit dem populären Element, aber auch, indem sie den Kaiser auf neue Art stützt - die autochthonen Lokalverfassungen der agraren Siedlungen und Gaue ausser Kraft. Die topologisch gebundenen Götter wurden zerstört, Kirchen, Klöster und Bischofssitze gegründet. Die Gaufürsten werden ausgeschaltet, lassen sich von königlich-kaiserlich eingesetzten Grafen verwalten. Dieses Zwischenfeld von autochthonem Adel und überschichteten Elitefunktionen - geistlicher wie weltlicher Art - ist es, was die Reichsgeschichte der Franken, Sachsen und Hohenstaufen in Gang hält.

Das Christentum als Pazifizierungsinstrument vor allem kettet die Franken an das Papsttum. Die Kirche bildet - weltlich gesehen - gleichsam die Exekutive der Pazifizierung. Sie steuert - im 'fremden Territorium' - die Entwicklungen indem sie statusmässig der weltlichen Elite gleichgestellt, zugleich auch, über die Bekehrung, diffusionistisch das Volk nachhaltig beeinflusst.

Diese 'doppelte', dh. weltlich-königliche und geistlich-päpstliche, oder territoriale und pseudo-territoriale Macht- und Verwaltungsstruktur macht den erbitterten Kampf um die Kontrolle über die fränkische Reichskirche verständlich. Die gleiche territoriale Infrastruktur wird von zwei konkurrierenden Verfassungen beansprucht.

Im fränkischen Verständnis ist - getreu den altgermanischen Orts- und Gaukulten - die Ontologie noch Teil der Herrschaft. Die Bischöfe, Äbte und andere Kirchenfürsten werden entsprechend vom Kaiser bestimmt. Religion ist - unter anderen - ein Mittel der Herrschaft. Soweit es sich um die Popularisierung des Christentums im Sinne der Pazifizierung handelt, sind beide Mächte kooperativ. Die Pazifizierung erlaubt es den Franken, ihre Kernlande politisch zu befrieden, die Kirche dehnt im Schatten militärischen Schutzes ihren Wirkungsbereich aus, betreibt so auch ihren personellen und materiellen Ausbau.

Rom baut den vorderorientalischen Teil der Nicaenischen Synthese neuplatonisch aus

Konträr zu dieser Ausdehnung der populären Basis, baut Rom als klerikales Zentrum auch zusehends auf der Grundlage der Nicaenischen Synthese das vorderorientalische Gott/König-Herrschertum (resp. die Theokratie) aus. Der Schwerpunkt des Alten Testaments verschiebt sich von der jüdischen Staatsverfassung (auserwähltes Volk, hebräischer Bund mit Gott) auf die Genesis. Die Schöpfungsgeschichte wird universalisiert, nun monotheistisch auf den jüdischen Staatsgott projiziert, rational als ideell absolute Wirklichkeit postuliert.

Philosophisch-theologisch entscheidend ist vor allem die über Plotin (204-270) überlieferte und entwickelte Linie des Neuplatonismus, die das höchste Allgemeine - gegenüber Platon - ver-ein-fachend entmaterialisiert und damit die Absolutierung des Gottesbegriffes begründet. Zum andern ist es die Patristik (Augustinus 354-430) und zweifellos auch Augustinus' Hauptwerk 'De Civitate Dei' welche den Ausbau der Kirche als 'Gottesstaat' vorantreiben. In letzterem schildert Augustinus den ewigen Gegensatz zwischen 'Gottesstadt' und 'Teufelsstadt', charakterisiert erstere als die katholische Kirche. Sie ist getragen von einem demütig vertrauend sich der Autorität hingebenden Glauben. Die andere jedoch, die 'Teufelsstadt', im heidnischen Römerreich wurzelnd, kennzeichnet sich grell in selbstsüchtigem Hochmut gegen Gott. Solche offensichtlichen Überzeichnungen würden wir heute als Werbung bezeichnen.

Auf dieser Ebene wurde die Stellung des Papsttums systematisch ausgebaut. Die konkreten Schritte galten zum Einen der Ausbildung der neutestamentlichen Linie. Das Primat Roms unter den Bischöfen, resp. Patriarchaten, wurde durchgesetzt, und weiter wurde die direkte 'Apostolische Sukzession Roms', die Verbindung des römischen Papstes zu Petrus in Bezug auf höchste Ehre, Regierungs-, Rechts-, und Lehrgewalt der Kirche (Patrimonium Petri) kirchenrechtlich festgelegt. Die Unterscheidung einer geistlichen gegenüber einer weltlichen Gewalt wurde weiterentwickelt mit Betonung der völligen Unabhängigkeit der kirchlichen Gewalt im Sinne der von Papst Gelasius I. (482- 496) - gegen das byzantinische Kaisertum gerichteten - klar dargestellten römischen Doktrin von den zwei Gewalten. Daraus folgte erstens die Unterordnung der Herrscher als Glieder der Kirchenzucht, die Einrichtung der kirchlichen Verwaltungsbezirke nach römischem Muster (Diözese), der Ausbau der klerikalen Hierarchie, schliesslich der Ausbau der territorial-rechtlichen Grundlagen des Kirchenstaats. Mit Gregor I. d. Gr. (590-604) schliesst sich die Liste mit der Zentralisierung des Kirchenbesitzes.

Rom durchdringt so zusehends - über sein poströmisch strukturiertes 'Verwaltungssystem' - die territorialen Aneignungen im Reich der Franken und ihrer Nachfolger, operiert vorerst an der Basis im Windschatten der weltlichen Eroberungen, politisch über das System der 'Kirchenprovinzen' mit (Erz-) Bischöfen, Äbten und den entsprechenden Institutionen, auch mit speziellen Legaten. An den Spitzen zucken die Spannungen besonders zwischen starken weltlichen Führern und hervortretenden Papstfiguren die mit Nachdruck die kirchliche Autonomie behaupten. Die Spitzen- Spannungen zeigen sich besonders an Ereignissen auf höchster Ebene, wie bei Krönungen und anlässlich von Papstwahlen. Wir versuchen dies im folgenden kurz chronologisch zu skizzieren. Theoretische und politische, weltliche wie geistliche Elemente erscheinen eng vermengt in diesem für das Mittelalter und danach - bis heute - entscheidenden Kräftemessen bei dem es, paradox, immer um Himmel und Erde geht.

Das Papsttum hat sich neuplatonisch eine 'über-imperiale' Verfassung konstruiert

Mit anderen Worten: das Papsttum hat sich zunehmend eine 'über-imperiale' Verfassung konstruiert. Es verwaltet und kontrolliert nun des Weltschöpfers Reich hie auf Erden, dem das fränkische Königtum klar untergeordnet sein muss. Das machtvolle Insignium dieser Verfassung liegt in dem vom Papst verliehenen Kaisertitel, mit Kaiserkrone und orientalischer Salbung. Das Papsttum wusste diese Machtmittel geschickt mit dem Nachwirken des einstigen römischen Cäsaren-Prestiges zu verbinden. 'Rex Francorum' nennen sich die sächsischen und salischen Kaiser, die nach fränkischem Recht leben. Nach der Kaiserkrönung in Rom nennt der König sich 'Imperator Augustus', seit 982 'Imperator Romanorum Augustus'. Die Spannung zwischen germanischem Königs-Recht und römischem Kirchenrecht, zwischen Königs- und Kaisertitel, holt die Könige immer nachhaltig dann ein, wenn es um Anlässe auf höchster Ebene geht, um Krönungen, mit der oder jener Krone. Wer wählt wen? Wer salbt wen? Erniedrigt sich der König oder Kaiser nach Rom zu gehen? Oder wird der Papst vom König oder Kaiser bestimmt? Könige und Kaiser krönen sich selbst. Bannbullen werden versandt. Heinrichs des IV. Gang nach Canossa ist bekannt. Päpsten werden Zugeständnisse gemacht. Päpste werden abgesetzt, durch Gegenpäpste verdrängt, oder nicht verdrängt.

Das wehrlose geistliche Schwert

Doch, auch das Papsttum ist fatal abhängig. Wohl unter neidvollen Blicken nach Osten, wo die Nicaenische Synthese in früh- und mittelbyzantinischer Zeit ohne Aufspaltung der Gewalten zur Grundlage eines 'orientalischen' königlichen Gottherrschertums wurde ('Cäsaropapismus' unter Justinian 527-65), wurde sich das poströmische Rom spätestens bei den Langobardeneinbrüchen in Oberitalien (572-650; 751 Eroberung Ravennas durch Aistulf) bewusst, dass das geistige Schwert ohne das weltliche arg verletzlich ist. Die Kirche muss sich mit weltlich starken Schwertern arrangieren, sie ist auf paradoxe Weise von der weltlichen Macht - und möglichst der dominierenden - abhängig. In diese Kategorie gehören die zahlreichen Italienkriege der fränkischen Könige und Kaiser, vor allem jene, die mit Schutzverträgen für Rom verbunden waren.

Dieses Paradoxon der mittelalterlich-scholastischen 'Zweigewaltenlehre', nämlich, dass zwei Arten von Staatsverfassungen sich auf das gleiche Territorium projizieren, wobei beide an der Basis prinzipiell kooperieren, sich aber an der Spitze 'verfassungstheoretisch' bekämpfen, und dabei letztendlich beide ihr Ansehen und ihre Macht verlieren, ist der dynamische Motor der mittelalterlichen Geschichte. Der Machtausbau des Papsttums führt zur Schwächung und - im 13. Jhdt. - zur Auflösung der Macht des wichtigsten Partners, des fränkisch-deutschen Königs - resp. Kaisertums. Nach dessen Niedergang schwenkt das Papsttum nach dem erstarkenden Frankreich, trifft dort aber auf einen neuen,'weltlichen' Absolutismus, der seine neuplatonischen Gottesmachtforderungen schnöde negiert. Der Papst wird ins Gefängnis gesetzt. Diese verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen , die für die kuIturgeschichtlichen Entwicklungen Europas von ungeheurer Tragweite waren, schlagen sich - gegenüber dem Identitätsstreit - historisch am deutlichsten nieder in zwei Streitereignissen, die komplementär eng verknüpft sind: im Universalien- und im Investiturstreit. Vorerst zu ersterem.

Der Universalienstreit

Die christliche Patristik war vom 2. - 7. Jahrhundert beherrscht vom Neuplatonismus. Mit der Ausdehnung des Islam (7. Jhdt. Syrien, Ägypten, 8. Jhdt. Spanien) kommt die christliche Scholastik (9. -15. Jhdt.) vornehmlich über arabische Quellen, z.T. über medizinische Schriften (Hippokrates, Galen), z.T. über Avicenna (980-1037) und Averroes (1126-98), zunehmend in Kontakt mit aristotelischem Gedankengut, das vorerst die neuplatonischen Fixierungen der Patristik durch seine Betonung menschlich- vernünftigen Denkens und empirischer Reflexionen herausfordert und im 12. u. 13. Jhdt. die Logica nova gegenüber der 'alten' Logik (logos vetus) zunehmend zu tragen beginnt (Roger Bacon 1219-94).

Theoretisch entzündet sich der Streit in der zweiten Hälfte des 11. Jhdts. an einer Textstelle des Porphyrius (232-31)4), den der römische Staatsmann und Philosoph und wichtigster Vermittler zwischen Altertum und Mittelalter, Boethius (480-524) übersetzt und kommentiert. Es geht scheinbar um eine philosophische Haarspalterei, um die 'Realität der Allgemeinbegriffe'. Doch, da mit der Unterscheidung von allgemein und speziell auch der mittelalterliche Gottesbegriff verbunden ist, wird die Sache von entscheidender Bedeutung.

Die Grundfrage des Universalienstreits lautet: Ist Wahrheit nur eine Idee? Auf die Frage des Porphyrios antwortet die Scholastik: Das Allgemeine, Gott ist die Wahrheit. Drei Hauptauffassungen lassen sich unterscheiden:

  1. Radikaler Begriffs-Realismus: Allgemeinbegriffe sind von den Einzeldingen abgehoben, ihnen entsprechen auf der ideellen Ebene metaphysisch-objektive Wesenheit.
  2. Nominalismus: Allgemeinbegriffe sind bloss Wörter, die Ähnliches zusammenfassen.
  3. gemässigter Realismus: Allgemeinbegriffe sind objektiv gültig, sie erfassen das Wesen der Dinge.
    Zum folgenden Teil
    Anmerkungen 1
    Anmerkungen 2
    Zurück zur Homepage