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Der ägyptische Reichskult als Vorbild?

Am deutlichsten zeigte sich die beschriebene politische Machtkomponente auf der Reichsebene. Der Reichskult des Reichsgottes im Reichstempel stellte die höchste Verfassungsinstanz dar. Der König vertritt diese Ordnung in Personalunion von oberstem Priester, Rechtssprecher und Territorialherrscher. Mit dem Kult des Reichsgottes Amun im Reichstempel zu Karnak begründet der König zyklisch das ganze Reich neu. Die Reichshälften etwa - und nicht nur diese - werden an solchen Festen sichtbar zur Einheit zusammengeführt.

Der Reichskult des Neuen Reiches war ein sehr beeindruckendes Ereignis, das wohl Tausende von Zuschauern und Pilgern anzog. Der Tempel in Karnak war der grösste und reichste Tempel ganz Ägyptens. Amun, der Reichsgott, verfügte an der Spitze seiner Neunheit (Atum, seine Kinder Schu und Tefnut, deren Kinder Geb und Nut und ihre Kinder Osiris, Isis, Sethi und Nephthys) über zeitweise einen enormen Tempelbesitz und auch über ein aufwendiges Priestertum. Am Opetfest zieht Amun jährlich von Karnak nach Luxor, dem 'südlichen Harmi'. Ursprünglich dauerte das Fest 11 Tage, es wird aber in der 20. Dynastie auf 27 Tage verlängert. Der gleiche Gott fährt alle 10 Tage von Karnak nach Luxor, von dort über den Nil, um den dort begrabenen Urgöttern, seinen Vorfahren, zu opfern (heute: Medinet Habu). Ein weiteres grosses thebanisches Fest war das 'Talfest'. Sein Kern: die Gottheit Amun unternimmt einen 'Auszug' zu den drei Totentempeln Mentuhoteps, Thutmosis' III. und der Königin Hatschepsut (Deir elBahri). In der 18. Dynastie wurde dieses Fest zum grossen allgemeinen Totenfest der thebanischen Nekropole. Man besuchte die Gräber und opferte den Toten.

Auch das Jubiläumsfest, das der König gewöhnlich 30 Jahre nach seiner Thronbesteigung zum ersten Male feierte, um es dann alle 3 Jahre zu wiederholen, war eine wichtige Institution. Mittelpunkt und wohl äItester Teil ist die Errichtung des Djedpfeilers, der die Dauer der pharaonischen Macht verkörpert. Am Vorabend wurde offenbar eine Königsstatue begraben (Zyklik?). Ein vom König ausgeführter Lauf, der ihn um 4 Male führte, ist als ein ursprünglich vordynastisches Landnahmeritual zu werten, in dem der jeweilige König sich legitimiert. Weiter wurde ein Apisumlauf durchgeführt, ein Pfeilschiessen nach vier Himmelsrichtungen fand statt. Auch die Gottheiten des Landes traten auf.

Alle diese brauchtümlichen Riten sind nicht einfach irrationale 'Fruchtbarkeitskulte u. dgl., sie sind traditionelles Rechtsgut der hierarchischen Raumsicherung, an denen die Zurschaustellung und rituell geregelte Handhabung der Rechtszeichen (Götter) in einem primär lokalen ontologischen Wertsystem von entscheidender Bedeutung ist. Beachtenswert ist, dass das ägyptische Umfeld zur Zeit Mose die engen Zusammenhänge zwischen Reichsverfassung und 'Religion' betonte. Das Neue Reich baut seinem Reichs-und Königsgott Amun um Theben riesige Tempelanlagen in Karnak, Luxor und Medinet Habu. Unter den Ramessiden wird u.a. der grosse Säulensaal von Karnak errichtet. Diesen Tempeln, resp. den entsprechenden Göttern gehörten riesige Ländereien. Der Papyrus Wilbour Iässt erkennen, dass in der Ramessidenzeit der grösste Teil des Landes sich in den Händen der Tempel befand.

Von diesen Daten her sind die Ähnlichkeiten zum Alten Testament denn auch unverkennbar. Mose orientiert sich klar an der Reichsverfassung, abstrahiert diese aber von ihren konkreten Bedingungen physisch repräsentierter Götter, Tempel, Kulte und ihren traditionellen Voraussetzungen (Göttergenealogien, Kulttraditionen). Ein enormer Abstraktionsprozess, der sich aus der geschriebenen Umsetzung ergibt und aus der ganz anderen Situation. Er schreibt eine Verfassung für ein Volk, das noch auf der Stufe der Stammesorganisation und des Nomadismus steht, das sein Land erst erwerben muss, das auf der Reichsebene somit noch keine Institutionen hat, keine Tempel, keine Paläste, keinen König. Der physische Teil fällt praktisch weg. Der Text ist extrem auf die tragende Kernstruktur reduziert. Der physische Teil kann sich teilweise später entwickeln, doch bleibt das reduktive Moment, die lineare Beziehung Gott - Mose - Volk dominant und hat später wohl auch das Konzept Religion begünstigt. Im Einzelnen lässt sich folgendes sagen.

Die in die Augen springendste Ähnlichkeit ist die territoriale Bedeutung der Gottheit. Der Bund mit ihr bedeutet für die Hebräer primär und vor allem Land, von den frühesten Erwähnungen bis zur Landnahme und den Königen. Auffallend ist auch die starke Zentrierung der mosaischen Verfassung auf eine personelle Spitze, die Mose selbst besetzt und sich dabei legitimiert aus dem nächsten Umgang mit dem von ihm gestifteten Gott. Der Situation entsprechend baut sich Mose nicht auf als Königsfigur. Doch, die Personalunion von Volksführer, 'Hohepriester' und oberstem Gesetzgeber, die Mose repräsentiert, ist nur mit Bezug auf die ägyptischen Vorbilder denkbar. Sozial die mittlere Schicht bilden die Stammesvertreter mit ihren Genealogien (Erzväter).

Den riesigen Teil der Orts- und Gaugötter und ihrer Kulte hat Mose weggelassen, nur gleichsam den Reichsrahmen abgehoben, der aber in Ägypten ohne Unterbau undenkbar gewesen wäre. Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die der hebräischen Volkstradition entstammenden kultischen Festelemente, wie etwa das Laubhüttenfest - ursprünglich zweifellos selbst kultischer Art - nun rigide in den neuen Staatskult integriert werden. Sie werden zum Kultfest Jahwes, des neuen Staatsgottes.

Die bewunderungswürdige Leistung Moses bestand darin, dass er aus dem ägyptischen Reichskult gewisse tragende Strukturelemente abstrahierte und sie in schriftlicher Form auf den dynamischen Prozess des Auszugs projizierte. In diesem bewegten Prozess liessen sich die Kernpunkte seiner Verfassung einspielen. Funktional war er bezogen auf einen künftigen Ort, das Land Kanaan, und auf einen künftigen Zustand, das geplante Reich. Hier spielte vermutlich auch das Prozessionsmotiv der ägyptischen Reichskulte eine wichtige Rolle als Vorbild. Die Gottheit verlässt in beweglichen Kultobjekten ihren gewohnten Standort, tritt in eine dynamische Phase um schliesslich, nach der Rückkehr, ihren alten Standort wieder einzunehmen. Bei Mose ist das sehr ähnlich angelegt! Die Reichs-Gottheit zieht aus, das Volk folgt ihr, mit dem Ziel, die Gottheit an einem neuen Ort zu etablieren.

Schriftliche Abstraktion vom traditionell gewachsenen Ist-zustand Ägypten und 'transitorische' Geltung der Schrift, resp. des Bundes, auf einen künftigen, realen Staatszustand hin, dies waren die wesentlichen Bedingungen. Die physische und semantische Dimensionen fallen weg, die Gottheit wird nur verbal repräsentiert. Es ist dies zweifellos die entscheidende Neuerung des Alten Testamentes. Mit ihr verbindet sich eine folgenschwere Verschiebung vom Kult zum Glauben. Das heisst, von der physischen Teilnahme an physisch geprägten Kulten vor physisch repräsentierten Gottheiten einerseits, zum maximalen Abstraktum andererseits, Religion wird dominant verbal. Damit auch miss-verständlich. Bemerkenswert: "Am Anfang war das Wort"!

Damit hängt auch das wichtigste Strukturmerkmal zusammen, das die ganzen fünf Bücher (und auch die folgenden) grundlegend prägt, nämlich das 'in den Mund legen von Worten'. Die Gottheit spricht - über Mose - zum Volk. Dieses Stil- und Rechts-'Mittel' war im ägyptischen Kultwesen die Regel, in der Orakeldeutung ist es bekannt, ebenso aus Dekreten und Gebeten. Auch das Prophetentum ägyptischer Tempel benutzte dieses Mittel sakralrechtlicher Stellvertretung. Es ist erstaunlich, wie blind oft die streng historische Deutung - an entscheidenden Stellen - für antike Rechtsformen ist.

Sehr klar wird aus der Sicht der 'Staatsstiftung' nach ägyptischem Muster auch die vielzitierte 'Eifersucht' der alttestamentlichen Gottheit, resp. die stehende Wendung des 'ihr sollt keine andern Götter neben mir haben' (nahestehend letztlich auch das Konzept des 'auserwählten Volkes'). Sie ziehen sich durch das ganze Werk Mose, werden auch später immer wieder aufgenommen. Die 'Eifersucht Gottes' erhält nun eine andere, sehr einleuchtende Geltung. Mose verlangt Verfassungstreue. Der Abfall, die Teilnahme an Riten anderer Tempel, ihre materielle Unterstützung, bedeutete die Schwächung der eigenen Kult-Struktur. Nicht nur Opfer und Zuwendungen fallen aus, in Auseinandersetzungen fällt auch der Verteidigungswille weg.

Wie gesagt, Moses geschriebene Verfassung war entsprechend ein riskantes Unternehmen. Es verfügte nicht über ein brauchtümlich über Jahrhunderte eingespieltes Kultsystem, das in den ägyptischen Verfassungen jener Zeit die Grundlage war und natürlich immer - durch das Gewicht der Tradition - für sich selbst sprach. Dass entsprechend 'Glaubwürdigkeit' der nur geschriebenen Verfassung Moses ein wichtiges Thema war, zeigt der nächste Absatz.

Das Alte Testament beginnt mit dem zweiten Buch

Wir haben Mose als Staatsgründer eingesetzt und haben versucht, die Umstände zu verstehen, unter denen seine Verfassung zustandekam. Nun interessiert uns aber im Folgenden mehr sein Werk. Wie spiegelt sich die Hypothese 'Mose als Staatsgründer' in seinen Büchern? Wenn Mose die Verfassung geplant hat, wie zeichnet sich das ab? Die Betonung Iiegt nun entsprechend auf seiner subjektiv aktiven Person. Das heisst, man würde von seiner Lebensgeschichte ausgehen. Erstaunlicherweise beginnt das zweite Buch recht klar mit Moses Leben, ja es beginnt - nach einer vermittelnden Einleitung - direkt mit seiner Geburt. Liegt hier der eigentliche Anfang?

Versuchen wir also im folgenden das Alte Testament auf diese Weise mit dem Leben Mose zu verknüpfen. D.h. wir beginnen mit dem zweiten Buch, dem eigentlichen Anfang der von Mose initiierten Staatsgründungsgeschichte. Der Text beginnt folgerichtig mit dem kurzen Curriculum des Staatsgründers Mose. Er schildert vorerst - sehr kurz - seine Beziehung zum Hof. Er stellt sich dar als Adoptivsohn einer Pharaonen-Tochter. Er wurde am Hofe erzogen, als Schreiber ausgebildet. Mit dieser äusserst kurzen Skizze ist die Rolle, die er sich aneignet, in den Augen der damaligen Hebräer vorerst grundsätzlich legitimiert. Schreiber am pharaonischen Hof hatten eine sehr hohe soziale Stellung. Entsprechend ist er im ganzen Auszugsgeschehen Hauptfigur, der Hauptakteur der Bücher 2 - 5. Er tritt in entscheidenden Ereignissen als derjenige hervor, der den Bund bezeugt, den Auftrag hat, den Auszug leitet, bis zu seiner Abschiedsrede in Moab, wo er stirbt. Auch mit dieser Lebensgeschichte macht die Hypothese 'Staatsgründer' Sinn.

Keine Zweifel an Moses Funktion als Staatsgründer Iässt jedoch das auf das 5. Buch Mose folgende Buch Josua, das man ja zu recht das 'Landnahme'-Buch nennt. Es beschreibt ganz konkret, wie die Hebräer Dörfer und Städte in ihren Besitz bringen, die Bewohner vertreiben, Brände legen etc., schliesslich die Ländereien unter den hebräischen Stämmen aufteilen. Die kanaanitischen Stämme werden ausgerottet, 31 Stadt-Königtümer (z.B. Jerusalem, Hebron usw.) werden erobert.

Am Interessantesten sind in unserem Kontext jene Beispiele, die kultische Techniken der Eroberung zeigen. Die Stadt Jericho wird durch eine sechstägig je einmalige, am 7. Tage durch siebenmalige Circumambulation mit der heiligen Lade derart beeindruckend der Krieg erklärt, dass die Mauern 'von selber' fallen. Anders gesagt, man besetzt die Stadt kultsymbolisch 'von aussen'. Erst nach der Eroberung wird alles kurz und klein geschlagen, die Bewohner getötet oder vertrieben, die Stadt wird angezündet, alles verbrannt, ausser Gold, Silber und anderem Metall. Diese Luxusgüter werden dem hebräischen Kultschatz einverleibt.

Auch die folgenden Bücher zeichnen Stationen der Staatsbildung, der Zerfall der Reichsbildung ('Abfall von Gott'; die Bundeslade geht verloren!) unter den Stämmen (Buch der Richter) und der Aufbau des Königtums mit den Büchern Samuel und Könige.

Kurz, es besteht kein Zweifel, das Alte Testament ist wesentlich eigentlich die Gründungsgeschichte eines Reiches. Die Bücher Mose 2 - 5 sind die Verfassung dazu. Die Gottheit wird gestiftet, die dieses Reich definiert und schützt. Das versprochene Reich wird in den folgenden Büchern, zuerst auf der Ebene der Vereinigung der 12 Stämme, später als Königreich in die Wirklichkeit umgesetzt. Gott ist bei alldem - nach damaligem vorderorientalischem Staatsrecht - die Rechtsgrundlage dazu. Nota bene, der Begriff Bund, der das Verhältnis zwischen Mose, den Hebräern und Gott bestimmte, war wesentlich und grundlegend auch ein ganz profaner Rechtsbegriff. Das ist nun alles so offensichtlich, dass man sich fragt, wie man das überhaupt anders sehen kann - zumindest heute. Verbaut hat die Einsicht in die territorialen Bedingungen sehr wahrscheinlich die rigide Ausrichtung des ganzen Schriftwerks auf den verbalen Begriff Gott. Es war vermutlich diese mit der schriftlichen Form entstandene 'virtuelle' Verdichtung, die dem religiösen Aspekt der Konstruktion förderlich war. Gott bleibt durch alle Bücher immer der absolut tragende Bezugspunkt, äussert sich wesentlich 'linguistisch', als Subjekt. Er scheint zwar eng mit der Lade verbunden, doch bleibt er als geistiges Wesen ausserhalb. Allerdings wird diese Geistigkeit dort brüchig, wo sie Realitäten schildert, die man handfest der hebräischen Tradition zuordnen kann. Solche Stellen sind etwa jene, da Gott das traditionelle hebräische Laubhüttenfest erstaunlich genau zu beschreiben weiss, oder dort, wo das unsichtbare Geistwesen seine Wunschliste von Schlachtopfern aufs Genaueste aufzählt. Man muss sich somit, wenigstens wissenschaftlich, wohl zur Auffassung durchringen, dass, was in den Büchern Mose den Bund mit den Hebräern trug, ganz offenbar wesentlich ein Rechtsmittel war.

Wir haben kurz einen Blick in die Bücher Mose und seiner Nachfolger geworfen und haben uns vergewissert, dass es sich in der ganzen Zielsetzung der erwähnten Bücher thematisch ganz eindeutig um eine Staatsbildung handelt. Vom Motiv her war Moses Werk, das Alte Testament, ganz eindeutig eine Verfassung, somit primär nicht Religion.


Zum folgenden Teil
Anmerkungen 1
Anmerkungen 2
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